BVerfG zur Inhaftierung nach erneuter Haftverschonung
Es reicht nicht aus, dass gegen den Angeklagten der von der Haft verschont ist, ein nicht rechtskräftiges Urteil mit einer Haftstrafe ergeht um Ihn erneut zu Inhaftieren. Lesen Sie dazu die Pressemitteilung des BVerfG.
Pressemitteilung des BverfG Nr. 85/2007 vom
17. August 2007
Zum Beschluss vom 15. August 2007 – 2 BvR 1485/07 –
Erfolgreiche
Verfassungsbeschwerde gegen erneute Inhaftierung nach vorangegangener
Haftverschonung
Dem
Beschwerdeführer liegt sexuelle Nötigung und Vergewaltigung zur Last.
Wegen Fluchtgefahr erließ das Landgericht gegen ihn im Juni 2006 einen
Haftbefehl, der drei Monate später gegen Meldeauflagen und Abgabe
sämtlicher Reisedokumente außer Vollzug gesetzt wurde. Im Mai 2007
verurteilte das Landgericht den Beschwerdeführer zu einer
Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Das Urteil ist noch
nicht rechtskräftig, da der Verteidiger des Beschwerdeführers Revision
eingelegt hat. Außerdem hob das Gericht die
Haftverschonungsentscheidung auf und setzte den Haftbefehl wieder in
Vollzug. Die hiergegen gerichtete Beschwerde verwarf das
Oberlandesgericht mit der Begründung, dass durch die Verurteilung neue
Umstände hervorgetreten seien, die die erneute Verhaftung des
Beschwerdeführers erforderlich machten.
Die
Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg. Die 3. Kammer des Zweiten Senats
des Bundesverfassungsgerichts hob die Entscheidung des
Oberlandesgerichts auf, da sie den Beschwerdeführer in seinem
Freiheitsgrundrecht verletze. Der Umstand allein, dass nach der
Haftverschonung ein (noch nicht rechtskräftiges) Urteil ergangen
sei,könne den Widerruf der Haftverschonungsentscheidung bei im Übrigen
unveränderten Umständen nicht rechtfertigen. Die Sache wurde zur
erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Liegen
die
Voraussetzungen für einen Widerruf der gewährten
Haftverschonung nicht vor, wovon nach gegenwärtigem
Erkenntnisstand auszugehen ist, muss der Haftbefehl erneut außer
Vollzug gesetzt und der Beschwerdeführer unverzüglich aus der
Untersuchungshaft entlassen werden.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen
folgende Erwägungen zu Grunde:
Nach § 116 Abs. 4 Nr. 3
Strafprozessordnung darf die Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls
nur dann widerrufen werden, wenn sich die Umstände im Vergleich zu der
Beurteilungsgrundlage seit der Gewährung der Haftverschonung geändert
haben. Ein nach der Haftverschonung ergangenes (nicht rechtskräftiges)
Urteil kann im Einzelfall zwar geeignet sein, den Widerruf einer
Haftverschonung zu rechtfertigen.
Dies setzt jedoch voraus,
dass die später vom Tatrichter verhängte oder die von der
Staatsanwaltschaft beantragte Strafe von der Prognose des Haftrichters
erheblich zum Nachteil des Beschuldigten abweicht und sich
die Fluchtgefahr dadurch ganz wesentlich erhöht. War dagegen zum
Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des Haftbefehls mit der später ausgesprochenen
- auch höheren - Strafe zu rechnen und hat der
Beschuldigte
die ihm erteilten Auflagen gleichwohl korrekt befolgt,
darf
die Haftverschonung nicht widerrufen werden. Insoweit setzt sich der
vom Angeklagten auf der Grundlage des Verschonungsbeschlusses
gesetzte Vertrauenstatbestand als Ausprägung der wertsetzenden
Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit im Rahmen der
vorzunehmenden Abwägung durch.
Diesen
Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen des
Landgerichts
und des Oberlandesgerichts nicht gerecht. Beide haben einseitig auf die
Höhe der verhängten Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten
abgestellt, ohne darzulegen, warum der Strafausspruch zum Nachteil des
Beschwerdeführers erheblich von der bisherigen Straferwartung abweicht
und sich die Fluchtgefahr dadurch ganz esentlich erhöht hat. Weder das
Landgericht noch das Oberlandesgericht haben berücksichtigt, dass
der Beschwerdeführer durch das strikte Befolgen der ihm
erteilten Auflagen über einen längeren Zeitraum hinweg einen
Vertrauenstatbestand geschaffen hat und hierin grundsätzlich
schutzwürdig
ist.
Bearbeitet von Rechtsanwalt Felsmann Kiel
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